Kumite

Kumite

Hier: Überlegungen zum Prüfungsteil

Jiyu – lppon – Kumite

Diese Kumite – Form ist ab der Prüfung zum 3. Kyu und dann fortlaufend bis zum 5. Dan Bestandteil jeder Prüfung.

Man könnte deshalb annehmen, dass spätestens bei der Prüfung zum 1. Dan (nachdem der Prüfling schon bei 3 vorhergehenden Prüfungen diese Kumite Form zeigen musste) hier alles klar wäre und man als Prüfer vorwiegend gute bis ausgezeichnete Darbietungen genießen könnte. Da die Prüflinge sehr oft über gute Techniken sowie über Kampfgeist verfügen, wäre das eigentlich auch zu erwarten. Trotzdem beobachtet man auf Lehrgängen und dann vor allem bei Dan – Prüfungen, dass auf diesem Prüfungsgebiet noch einiges zu verbessern wäre. Es liegt nicht an den Prüflingen, es liegt m.E. auch an der Art und Weise, wie Jiyu – lppon – Kumite verstanden und unterrichtet wird. Man gewinnt den Eindruck, dass dieser Prüfungsteil mehr oder weniger nebenher läuft. Um auch hier Verbesserungen zu erreichen, ist es notwendig, einen grundsätzlichen Konsens darüber zu erreichen,

1. warum dies ein wichtiger Prüfungsteil ist und dann darüber
2. wie deshalb Jiyu – Ippon – Kumite praktiziert und geübt werden soll

Suchen wir zunächst in der maßgeblichen Literatur:

1. Nishiyama und Brown „Karate – The Art of empty Hand Fighting“ 1960 Angreifer und Verteidiger nehmen hier eine lockere Freikampfhaltung ein und bewegen sich. Der Angreifer muss eine öffnung und die richtige Distanz zum Gegner finden, bevor er angreift. Der Verteidiger muss den Angreifer beobachten und bereit sein, sich zu verteidigen. Sobald der Angriff erfolgt, muss er abwehren oder ausweichen und dann kontern….Sowohl der Angreifer als auch der Verteidiger müssen versuchen, die richtige Distanz zu wahren: der eine zum Zweck des Angriffs und der andere zum Zweck der Verteidigung.“

2. Nakayama zitiert 1977 in der Buchserie „Best Karat~“ in Band 3 seinen Klassenkameraden und nach Gründung der JKA auch Kollegen Minori Miyata, dessen klar umrissene Ausrichtung über Jiyu – lppon – Kumite und Jiyu – Kumite von ihm und auch von vielen über alles geschätzt wurde: „Beim Jiyu – lppon – Kumite stehen sich beide Partner auf beliebige Distanz in Kamae frei gegenüber. Der Angreifer sagt die beabsichtigte Angriffsstufe an und führt dann seinen Angriff aus. Der Abwehrende wehrt den Angriff mit einer von ihm beherrschten und frei gewählten Technik ab und lässt unmittelbar einen Konter folgen. – Jiyu – lppon – Kumite – ist eine übungsmethode um grundschulmäßige Angriffs- und Abwehrtechniken in die Praxis umzusetzen. Die vielen verschiedenen Bewegungen aus einer Kata können hier im einzelnen mit Partner geübt werden. Hierfür gibt es auch die Bezeichnung Jissen = tatsachliches Kampf – Kumite.“

3. Kanazawa betont 1987 in seinem Buch „Kumite – Kyohan“, dass nach den grundschulmäßigen Kumite – Formen des Gohon – Sanbon – und Kihon – lppon – Kumite erst ein sich frei bewegender Angreifer uns zwingt, das Bewusstsein von Raum (Distanz} verbunden mit der richtigen Zeitwahl (Timing) zu entwickeln. Der Angreifer greift an, wenn der richtige Abstand (Mai – ai) erreicht ist und der Zeitpunkt stimmt . Das ist die kürzeste aber auch die treffendste und aussagekräftigste der drei Beschreibungen, denn sie betont die Wichtigkeit der Distanzbeherrschung und der Zeitwahl (Timing).

Halten wir also fest: Beim Jiyu – lppon – Kumite sollen diese zwei Qualitäten trainiert werden, die auch im freien Kampf von entscheidender Bedeutung und deshalb untrennbar miteinander verbunden sind:

1. Das Gefühl für den richtigen Abstand in Angriff und Verteidigung (Mai – ai)

2. Das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt (Timing)

Eine Formulierung, die ich einmal in der englischsprachigen Literatur fand, trifft meiner Meinung nach diesen Sachverhalt besonders anschaulich: “ To hit the right spot from the right distance in the right moment.“

Beginnen wir nun mit unseren ausführlichen Betrachtungen zunächst bei der Distanz (Abstand, Entfernung). Hier ist es hilfreich, zwischen zwei Distanzen (Abstanden} zu unterscheiden:

1. Die sichere Distanz – Vorkampfphase, Angriffsaufbau

Beide bewegen sich in einem solchen Abstand voneinander, dass ein direkter Angriff ohne vorherige Distanzverkürzung noch nicht m5glich ist. Wenn der Angreifer nun, um in den richtigen Abstand für seinen Angriff zu gelangen, die Distanz verkürzt und der Verteidiger immer genauso weit zurückweicht, dann bewegen sich beide noch nach einer Stunde in sicherer Distanz umeinander herum, ohne dass der Angreifer die richtige Distanz für seinen Angriff findet ! Deshalb ist die Anmerkung im Prüfungsprogramm wichtig, wo es heißt: …“ der Verteidiger soll vor dem Angriff so wenig wie möglich zurückweichen, um dem Angreifer die Einnahme des gewünschten (besser: des wirksamen Abstandes) zu ermöglichen.“

Ein Verhalten allerdings, bei dem der Verteidiger ohne sich zu bewegen wie ein Kaninchen gegenüber der Schlange sich dem Angreifer quasi wie gelähmt ausliefert, wäre andererseits unnatürlich und äußerst riskant!

Zur Bewegung des Angreifers heißt es: „Sinnvolles Bewegen des Angreifers vor dem Angriff ist erwünscht, um sich eine Gelegenheit (besser. den richtigen – wirksamen – Abstand} zum Angreifer zu erarbeiten.“ – Und da haben wir nun den zweiten Begriff zur Distanz, den wir zum besseren Verständnis benötigen:

2. Die wirksame Distanz – der entscheidende Moment

Diese Distanz ist erreicht, wenn der Angreifer ohne weitere Distanzverkürzung direkt angreifen kann.

Die Aufgabe des Angreifers ist es also, sich möglichst rasch aus der für beide sicheren Distanz In die wirksame Distanz herauszuarbeiten und dann von dort aus, ohne noch den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. schnell und stark anzugreifen. Verharrt er nämlich nur einen Sekundenbruchteil zu lange In der wirksamen Distanz, so kann er seinerseits sofort direkt vom Verteidiger abgekontert werden! Und hier beobachtet man nun sehr häufig die Situation, dass der Angreifer, nachdem er sich in die wirksame Distanz herangearbeitet hat, anschließend hier noch sekundenlang verharrt, um dann plötzlich und ohne jede weitere Distanzverkürzung anzugreifen. Dieses Verharren des Angreifers in der wirksamen Distanz würde ihn in einem tatsächlichen Kampf aufs äußerste gefährden, denn der Begriff „wirksame Distanz““ gilt ja auch für den Verteidiger, der ihn aus dieser Distanz heraus ebenfalls direkt wirksam treffen kann. Das ist der häufigste Fehler, der bei Lehrgängen und Prüfungen zu beobachten Ist! Die Ursache dafür ist ein falsches Verständnis von Timing im freien Kampf. Um dieses Missverständnis zu klären möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel aus der Physik bemühen, das auch noch mal die Begriffe „sicherer Abstand“‚ und „wirksamer Abstand““ verdeutlicht:

Nehmen wir einmal an, beide Kämpfer wären mit einer Spannung von etwa 10 000 Volt „geladen“. Die Entfernung, bei der ein Blitz überspringen kann, beträgt dann etwas mehr als 1 Meter. Solange also die vorderen Füße beider Kämpfer sich noch nicht bis auf diesen Abstand genähert haben, befinden sich beide in sicherer Distanz. Wenn sich der Angreifer bis zur wirksamen Distanz genähert hat, kann die Spannung überschlagen – und zwar von jeder Seite!! (Beim Annähern an die wirksame Distanz „knistert“ es schon gefährlich!). Das bedeutet, dass der Angreifer beim Erreichen der wirksamen Distanz sofort angreifen muss, ohne noch einen Sekundenbruchteil zu zögern. Er sollte sogar danach streben, das letzte Quäntchen Distanz bis zum Erreichen der wirksamen Distanz noch mit dem Angriff selbst zu überbrücken!

Dasselbe meint auch Miyamoto Musashi (jap. Schwertmeister 1548 – 1645, Autor von „Das Buch der fünf Ringe“). Sein Ausspruch: „lchi byô shi“ (In einem Atemzug. Im selben Moment) bedeutet: Wenn die richtige Distanz für einen Schlag gegeben ist, sollte man ohne irgendwelche weiteren Bewegungen in einem Atemzug angreifen. Taisen Deshimaru Roshi, ein lange Zeit in Frankreich lebender ZEN – Meister, formuliert ähnlich, wenn er in einem MONDO (=Lehrgespräch) sagt: „In den japanischen Kampfkünsten früherer Zeit brachte ein einziger korrekter Hieb den Tod. (Das ist das lppon – Prinzip in der traditionellen Praxis des Karate, das auch dem Jiyu – lppon – Kumite zugrunde liegt … Anmerkung des Verfassers). In allen Sportarten heute gibt es einen Moment des Abwartens; in den Kampfkünsten gibt es das nicht. Wenn man einen auch noch so kurzen Moment wartet, zieht der Gegner daraus Nutzen und man ist verloren.“

Gerade weil auch dem Jiyu – Ippon – Kumite dieses Prinzip des einen entscheidenden (Gegen-) Angriffs zugrunde liegt ist diese Kumite – Form eine ganz traditionelle Form des Kampfes und keine sportliche!

Für den Verteidiger hat deshalb diese Betrachtungsweise die Konsequenz, dass er den Angreifer, wenn dieser beim Erreichen der wirksamen Distanz zögert, entschlossen direkt kontern darf (muss!). Das ist hier dann auch keine De – Ai – Technik (direktes Kontern in den gegnerischen Angriff hinein), was mit Recht bei Prüfungen nicht erwünscht Ist, sondern der gegnerische Angriff ist noch gar nicht erfolgt. Dieses Kampfverhalten wird auch durch die traditionelle Philosophie der Kampfkünste begründet, bei der unter den verschiedenen Formen des SEN ( = Initiative) eine Initiative in der Verteidigung beschrieben wird (Ato – no – Sen), bei der du eine Verteidigungshandlung genau in dem Moment unternimmst, in dem du bemerkst, dass er angreifen will. Und dieser Moment ist gegeben, wenn er sich dir gegenüber in die wirksame Distanz begibt !

Auch in der Selbstverteidigung ist es übrigens rechtlich abgesichert, dass du gegen einen potentiellen Angreifer, der dir trotz Warnung zu sehr „auf die Pelle'“ rückt (andere Formulierung für „wirksamen Abstand“), eine Verteidigungshandlung unternimmst.

Nach meiner überzeugung kämen wir auf diese Art und Weise in dem Prüfungsgebiet Jiyu – lppon – Kumite zu ernsthafteren Kampfszenen, weil die ursprüngliche Vorstellung, den Kampf mit einem Schlag zu entscheiden, wieder deutlicher spürbar würde!

Zusammenfassung

Tori und Uke gehen sofort nach dem Startkommando in eine tiefe „traditionelle’~ Kampfstellung: Tori offensiv aus der Bereitschaftsstellung Hachiji – Dachi einen Schritt vor , Uke einen Schritt zurück. Tori arbeitet sich anschließend rasch an die wirksame Distanz heran und greift dann sofort stark an. Dabei nicht antäuschen, auch keine Distanztäuschung (Gleitsprünge vor oder zurück o.ä.}. Angriffe mit Oi – Tsuki grundschulmäßig arretieren! Der Angriff selbst muss so stark sein und mit der Absicht Kontakt zu machen vorgetragen werden, so dass der Angegriffene, wenn er nicht reagiert, ernsthaft gefährdet wäre. (Die Ernsthaftigkeit und Effektivität jeder Partnerkampfübung geht vom Angreifer aus!) Nur so wird auch Uke gezwungen, schnell, sicher und effektiv zu reagieren!

Uke weicht aus und (oder) blockt und macht sofort anschließend den Gegenangriff mit KIAI auf eine empfindliche Körperstelle. Unmittelbar danach wieder auseinander in die sichere Distanz (Nachbereitung}. Dort kurzes Verharren mit ZANSHIN (Wachsamkeit) dann wieder Heranarbeiten für den nächsten Angriff. Blockiert wird grundschulmäßig aus sauberen Grundstellungen heraus. Der Prüfling soll hier das ganze Spektrum der Karatetechniken in den Gegenangriffen anwenden: Sowohl bei den Stellungen, als auch bei den Blocktechniken, sowie bei den Gegenangriffen (Tsuki, Uchi, Keri). Also nicht nur mit Gyaku – Tsuki kontern. Denke daran, dass Jiyu – lppon – Kumite keine sportliche Form ist, sondern eine traditionelle und auch besonders dafür entwickelt wurde, um die vielen Techniken der Katas an einem aus der Bewegung heraus angreifenden Gegner anzuwenden.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Albrecht Pflüger